Eine Chronik (2000-2010)

von Volker Schad, Koordinator Begabungsförderung

Einleitung

Schulpolitische Entwicklungen und Entscheidungen pflegen in der Regel gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu folgen – häufig mit einem nicht unerheblichen Zeitverzug. Ähnlich verhielt es sich beim Thema „Exzellenzförderung“. Schüchterne Versuche einer besonderen „Hochbegabungsförderung“ wurden durch die Verknüpfung mit dem Begriff der „Elite“ in seinem durch den Nationalsozialismus pervertierten Gebrauch oder in Bezugnahme auf das egalitäre Gedankengut der 68er-Generation in langen Jahren der Geschichte der Bundesrepublik eher argwöhnisch beäugt. Noch 2005 titelte Karsten Mentasti in der Brauschweiger Zeitung vom 4. Oktober: „‘Elite‘ war bei der Bildung jahrzehntelang tabu“.
Angestoßen durch eine Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog aus dem Jahr 1996 mit dem Titel „Begabtenförderung ist ein Wechsel auf die Zukunft“ begann ein erstes Umdenken. Der Bundespräsident führte aus:

Die Förderung begabter und motivierter junger Menschen gehört zu den wichtigsten Aufgaben unseres Bildungssystems. Für die immer komplexeren Herausforderungen unserer Welt brauchen wir Menschen, die mit hoher Kompetenz, wacher Intelligenz und sozialer Verantwortung zu denken und arbeiten gelernt haben. Dazu müssen wir Begabungen systematisch entdecken und fördern

Auch die niedersächsische Landespolitik griff diese Überlegungen auf, bemerkte, wie Paul F. Brandwein formulierte, dass es „nichts Ungerechteres als die gleiche Behandlung von Ungleichen“ gibt und veröffentlichte im November 1999 unter dem griffigen Slogan „Niedersachsen macht Schule“ die Handreichung „Besonders begabte Kinder erkennen und fördern“, zunächst mit „Hilfen und Anregungen für den Elementar- und Primarbereich“.

a) konzeptionelle Überlegungen

Nach konkreten Möglichkeiten, besonders begabte Schülerinnen und Schüler systematisch zu unterstützen, suchte das Wilhelm-Gymnasium seit Beginn des Schuljahrs 2000/2001 und bereitete in diesem Zusammenhang die Einführung einer sog. „D-Zug-Klasse“ vor: Wer sich als besonders leistungsstark erwies, sollte vom Ende des ersten Halbjahrs der 10. Klasse in das zweite Halbjahr der 11. Klasse springen können. Die schulorganisatorische Strukturen wurden geschaffen, ebenso entstand ein entsprechendes akzelerierendes Curriculum. Dann aber erzwang der erhebliche, nicht ohne weiteres zu deckende Bedarf an zusätzlichen Lehrerstunden zunächst einen Aufschub dieser Pläne.

In dieser Situation bot sich recht unerwartet mit der Ankündigung des niedersächsischen Kultusministeriums, interessierten Schulen werde – nach Vorlage eines entsprechenden Konzepts und nach Überprüfung ihrer Leistungsfähigkeit – die Aufgabe übertragen, die hochbegabten Schülerinnen und Schüler einer Region aufzunehmen und zu fördern, eine neue Chance, die das WG beherzt ergriff.

In der Gesamtkonferenz am 11.10. 2000 stellte der Schulleiter erstmals die besonderen Möglichkeiten, aber auch die unbestreitbaren Lasten einer Hochbegabungsförderung vor. In dem damit einsetzenden Reflexionsprozess gab es spontane Zustimmung, orientiert z.B. an der Überlegung, dass eine besondere Begabungsförderung einzelner Schülerinnen und Schüler auch die Leistungen einer Klasse insgesamt anheben könnten. Bedenken gab es, wie man denn überhaupt hochbegabte Schülerinnen und Schüler, von denen einige glaubten, sie seien besondere „Problemkinder“, in einer staatlichen Schule angemessen fördern könnte.

Die Diskussionen verliefen kontrovers und intensiv. Sie führten im Jahr 2002 zu einem uneingeschränkten Ja, sich im Verbund mit anderen Schulen auf den Weg einer besonderen Begabungsförderung zu machen und damit gemäß dem ersten Erlass der „Bildungsoffensive für Niedersachsen – Hoch Begabte besser fördern“ vom 21.11.2001 einen „Kooperationsverbund Hochbegabtenförderung“ zu gründen. Dabei wurde Begabungsförderung – im Unterschied zu in Braunschweig bereits bestehenden Konzepten – bewusst integrativ verstanden. Hochbegabte und besonders begabte Schülerinnen und Schüler sollten immer mit allen anderen Schülern ihres Jahrgangs, gerade auch mit leistungsschwächeren, in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet werden. Begabungsförderung war damit mehr als eine Individualisierung von Lernwegen und mehr als eine nur kognitive Förderung; sie war immer auch eine soziale Begabungsförderung. Den allgemeinen Anspruch formulierte der Schulleiter des Wilhelm-Gymnasiums, Thamm van Balen, in einem ersten Pressegespräch zusammenfassend wie folgt: „Wir senden deutliche Signale, dass es sich um allerhöchste Anforderungen handelt.“

Die Euphorie des Gründungsbeschlusses beflügelte die zunächst notwendigen Arbeiten einer bürokratischen Beantragung der „Einrichtung eines Kooperationsverbundes“ – zudem mussten geeignete Schulpartner aus anderen Schulformen gefunden und ein ausführliches Konzept verschriftlicht werden. „Mitstreiter“ waren schnell gefunden: die vier Grundschulen Comeniusstraße, Edith-Stein, Heinrichstraße, Klint und die damals noch existierende Orientierungsstufe Leonhardstraße. Die Kindertagesstätte St. Magni trat dem Kooperationsverbund erst zum Schuljahr 2007/08 bei. Unter dem Titel „Interesse wecken – Begabungen fördern – Schwächen beheben“ wurde ein gemeinsames Konzept zum „Start in die systematische Begabtenförderung“ verfasst. Ziele, Schwerpunkte und Förderangebote wurden quasi am grünen Tisch aus dem Boden gestampft, der fertige Antrag am 12.12.2002 von allen beteiligten Schulen unterzeichnet.

Dann ging formal alles ganz schnell: Der Verwaltungsausschuss der Stadt Braunschweig fasste in seiner Sitzung vom 21. Januar 2003 den entscheidenden Beschluss:

„Der Einrichtung eines Kooperationsverbundes Hochbegabtenförderung in Braunschweig mit Beginn des Schuljahres 2003/2004 zwischen den Grundschulen Comeniusstraße, Edith-Stein, Heinrichstraße Klint, der Orientierungsstufe Leonhardstraße und dem Wilhelm-Gymnasium wird zugestimmt.“

In seinem Schreiben vom 23.06.2003 gratulierte der damalige Kultusminister Busemann dem Wilhelm-Gymnasium u.a. mit den Worten:

„Sie haben sich mit anderen Schulen zu einem Kooperationsverbund zusammengeschlossen und ein gemeinsames Konzept zur Begabungsförderung erarbeitet und vereinbart. Damit folgen Sie dem bildungspolitischen Leitziel, Hochbegabungen früh- und rechtzeitig zu erkennen, anzuerkennen und zu verstehen, individuell zu fördern, lebensnah zu entwickeln und umfassend zu integrieren. Ich begrüße ausdrücklich Ihr Engagement und bin davon überzeugt, dass Sie ein zunehmend qualifiziertes Angebot zur Förderung von Hochbegabten in ihrer Region entwickeln werden.“

Mit Beginn des Schuljahres 2003/04 konnte es also losgehen. Das damals einzige Publikationsorgan der Schule, die sog. „Gelben Blätter“, verkündete nicht ohne Stolz: „Wilhelm-Gymnasium ist Gründungsmitglied des Kooperationsverbundes Hochbegabtenförderung in Braunschweig“. Die Braunschweiger Zeitung sprach gar von einem neuen „Pakt für Bildung“. Das Wilhelm-Gymnasium stand an der Spitze einer neuen bildungspolitischen Konzeption; Pläne und Konzepte waren fertig, die rechtliche Genehmigung war erreicht – die Phase der praktischen Umsetzung konnte beginnen.

b) praktische Umsetzungen

Unter der Überschrift „Kommen sie oder kommen sie nicht?“, fragte der am WG für Begabungsförderung zuständige Koordinator nun doch etwas besorgt in den „Gelben Blättern“ – gemeint waren die konkreten Schülerinnen und Schüler, die nun die Hochbegabungs- oder eine weiter gefasste Begabungsförderung erproben sollten. Ein erster Informationsabend für alle Interessierten am 26.08.2003 machte Mut; die „Gelben Blätter“ notierten:

„Der Informationsabend bestärkte unser „gutes Gefühl“, die zahlreichen positiven Rückmeldungen in den nächsten Tagen zeigten uns, wie groß das Interesse an einer besonderen Begabtenförderung an unserer Schule ist. Und trotzdem waren wir weiterhin gespannt: (…) Werden die Angebote zur Begabtenförderung jenseits der alltäglichen Schulroutine von unseren Schülerinnen und Schülern nun tatsächlich gewählt und angenommen?“

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die ersten „Angebote zur Begabten- förderung“, die im Sinne eines „Enrichments“ zu Beginn des Schuljahres 2003/04 am WG angeboten worden sind und die wir in einer ersten größeren Planungsrunde des Kooperationsverbundes am 30.10.2003 wie folgt vorstellten:

Business English, Komponieren und Arrangieren in der Musik (mit dem Kompositions-Programm „Sibelius II“), Latein-Lektürekurs: Terenz „Eunuch“, Lese- und Schreibwerk- statt/Literaturlabor, Mathematik für besonders Interessierte für die Klassen 7/8 und 9 bis 11 (die Jahrgänge 5/6 besuchten noch die Orientierungsstufe), Philosophie und Literatur, „Viva Vox Latina“ – Lebendiges Latein. Hockey, ein Börsenspiel und das Angebot „So ein Zirkus“ kamen kurz danach hinzu.

Die Enrichment-Angebote, die jede Schülerin und jeder Schüler, ohne besondere Vorbedingungen erfüllen zu müssen, wählen konnte, starteten mit einer großen Schülerzahl. Die „Gelben Blätter“ frohlockten:

„Sie werden angenommen! Und wie! Alle Angebote starten seit Anfang September mit einer hinreichend großen Teilnehmerzahl (..). Insgesamt nehmen fast 50 Schülerinnen und Schüler (von damals insgesamt ca. 520 Schülerinnen und Schülern (Anm.d.Verf.)) an den Startangeboten teil und bestätigen uns durch ihre Wahl die Attraktivität und Notwendigkeit einer zusätzlichen Begabtenförderung. Zudem sind erste individuelle Förderangebote in persönlicher Absprache mit den jeweiligen Elternhäusern vereinbart worden – ein weiterer ermutigender Schritt in Richtung einer zusätzlichen und ganz individuellen Förderung.“

In der Startphase 2003/04 gab es zudem eine Art „Anschubfinanzierung“ durch das Land Niedersachsen, etwa um Fachliteratur oder besondere Computerprogramme erwerben zu können. Die einzelnen Fachgruppen und AG-Leiter äußerten entsprechende Wünsche. Besonders forsch trat dabei die „Zirkus-AG“ auf, die auf ihrem getippten Wunschzettel unter dem Stichwort „Zirkusmaterial“ zur Anschaffung empfahl: 30 Jonglierbälle, 30 Jongliertücher, 1 Einrad, 3 Diabolos, 1 Devil Stick, 1 Rola-Rola, 10 Jonglierteller, 1 Schminkset, 2 Sportmatten. Handschriftlich bat die AG-Leitung ergänzend um „eine Laufkugel“ und erklärte: „2-3 wären ein Traum, aber schon eine einzelne wäre super und sehr effektvoll“. Der zuständige Koordinator vermerkte als Antwort, wohl etwas genervt ob der vielen Wünsche, nur kurz und knapp: „Jetzt kein Geld mehr!“.

Mit dem erfolgreichen Start in die Begabungsförderung am WG wuchs der Wunsch nach Fort- und Weiterbildungen, nicht nur bei den Lehrern, auch in der Elternschaft. Dabei fiel uns Lehrern plötzlich auf: Eigentlich hatten wir das ganze Konzept alleine entwickelt, Schüler wie Eltern waren kaum eingebunden gewesen. Aber ohne eine intensive Zusammenarbeit mit den Elternhäusern – so viel merkten wir jetzt schnell – war eine individuelle Begabungsförderung nicht zu leisten. Somit begann mit dem Jahr 2003 nicht nur die Phase der intensiven und sich kontinuierlich weiter entwickelnden Fortbildungen, es begann auch die Phase einer intensiven Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern. So wurden z. B. ab 2004 regelmäßig beson- dere Elternabende für die an Begabungsförderung interessierten Eltern angeboten, auch auf der Ebene des Kooperationsverbundes (17.2.2004, 2.11.2004) und besonders für Eltern des 4. Jahrgangs (12.1.2004).

Wir lernten viel und wir lernten gemeinsam, Eltern, Lehrer und Schüler; Beratungslehrerin und Sozialpädagogin lernten und halfen mit. Wir erfuhren viel Wissenswertes z.B. über „Akzeleration“ und „Underachiever“, wie wir „besondere Begabungen finden und fördern“ könnten (9.2.2004). Wir erfuhren Neues über „hochleistungsfähige Schülerinnen und Schüler im Klassenunterricht“ (14.4.2005), in späteren Jahren über die „Beratung von hochbegabten SchülerInnen und ihren Eltern als Aufgabe von Lehrkräften“ (8.11.2006) oder über „die Stellung hochbegabter Schülerinnen und Schüler in der Klasse“ (3.3.2009). Dabei wurden uns auch einfache und uns zunächst eher verblüffende Einsichten wie etwa die folgende vermittelt: „Langeweile ist kein Zeichen für Hochbegabung, sondern für schlechten Unterricht“. Wir alle wurden so Schritt für Schritt zu kleinen Experten auf dem Gebiet der Begabungsförderung, einzelne Fachgruppen begannen damit, fachbezogene Förderkonzepte zu entwickeln. Die Fachgruppe Mathematik war besonders eifrig. 2003 war das Jahr der ersten Teilnahme an der Mathematik-Olympiade (2006 startete der erste Känguru-Wettbewerb mit 346 Schülern!), eine Mathematik-AG im Rahmen der Begabungsförderung wurde wie folgt angekündigt:

„Wir widmen uns den schönen Seiten der Mathematik: den Anwendungen, Modellierungen und Knobeleien (…). Damit die Sache nicht zu anstrengend wird, benutzen wir als Hilfsmittel einen neu entwickelten PDA mit Touchscreen (…). Die notwendige aufgabenbezogene Mathematik wird in Form von Vorträgen und Referaten vermittelt. Aufgabenblätter und Ausarbeitungen liegen in unserem „MatheNest“-Bereich auf dem Lo-Net-Server.“

Der angenehme Nebeneffekt all dieser Aktivitäten und Diskussionen: Klima und Gesprächs- kultur in unserer Schule begannen sich Schritt für Schritt zu verändern; wir alle kommunizierten und arbeiteten intensiver miteinander. Blumig formulierte der Koordinator für Begabungsförderung in einem Brief an die Eltern: „Wir sind an einer engen Zusammenarbeit mit den Eltern interessiert. Wenn Sie mir und uns helfen möchten beim Einrichten des neuen Zimmers „Begabtenförderung“ in unserem Haus „Wilhelm-Gymnasium“, dann setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung.“

a) Öffentlichkeitsarbeit und „Kooperationen“

Am 2./3.10.2005 wagten wir uns zum ersten Mal an die außerschulische Öffentlichkeit, indem wir an einer Podiumsdiskussion im Rahmen eines Symposiums mit dem Thema „Begabten- förderung heute“ im Braunschweigischen Landesmuseum teilnahmen und uns erfolgreich auf dem Podium, das mit unterschiedlichen Experten besetzt war, behaupteten. Damit konnten wir als Mitglied eines Kooperationsverbundes erstmals die Bevölkerung der Region, über den engeren schulischen Kontext hinausgehend, für das Thema „Begabungsförderung“ interessieren.

Die Öffentlichkeitsarbeit entwickelte sich zu einem Schwerpunkt unserer Arbeit. Am von uns so genannten „Tag der Hochbegabtenförderung“ am 5.3.2008 präsentierten sich das Wilhelm-Gymnasium und der mit einer neuen Homepage ausgestattete „Kooperationsverbund Hochbegabtenförderung Braunschweig I“ in den Räumen der Braunschweiger Stadtbibliothek im Schloss mit Vorträgen und zahlreichen Angeboten. Höhepunkt der Veranstaltung war die zentrale Podiumsdiskussion, moderiert von der Braunschweiger Zeitung, mit dem Thema „Kooperationsverbund Hochbegabungsförderung – ein neuer Weg der Elitebildung?“. Teilnehmer waren neben besonders begabten Schülerinnen und Schülern des Wilhelm-Gymnasiums, die mit auf dem Podium saßen, u.a.: Frau Ministerialrätin Stobbe, Niedersächsisches Kultusministerium; Herr Ltd. Städt. Direktor Schebesta, Leiter des Fachbereichs Schule und Sport, Braunschweig; Herr Prof. Dr. Sonar, Institut Computational Mathematics, TU Braunschweig; Herr Dr. Bernd Meier, Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig. Die Veranstaltung machte allen Beteiligten und Gästen deutlich, wie viel sich verändert hatte in den acht Jahren seit der Herzog-Rede von 1996 – das Thema „Hochbegabungsförderung“ war in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die Öffnung nach außen über die schulischen Grenzen hinaus bedeutete für uns auch die Intensivierung der Zusammenarbeit mit außerschulischen Bildungsträgern – eine Entwicklung, die ab 2005 eine große Dynamik entfaltete und letztendlich bis heute andauert. Besonders begabte Schülerinnen und Schüler wurden und werden zunehmend nicht nur bei und durch uns, sondern durch externe Helfer an außerschulischen Lernorten individuell gefördert. Zahlreiche Partner tragen damit die Begabungsförderung mit, an der Spitze die TU Braunschweig. Im Mathematiklehrer-Fortbildungszentrum „Mathe-Lok“ arbeitete z.B. eine Schülergruppe namens „Die Dampfmaschine“. Sie traf sich jeden Dienstag nach der Schule und beschäftigte sich jeweils ein Jahr lang mit Themen, die der Mathematikunterricht in der Schule so nicht anbot, z.B. mit „Polynomen und ihren Nullstellen“. Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 5/6 bauten, unterstützt von Studenten, Roboter im „Institut für Allgemeine Pädagogik und Technische Bildung – Abteilung Technische Bildung und Informationstechnologie“. Seit dem Schuljahr 2004/05 nahmen hochbegabte Schülerinnen und Schüler ein Frühstudium auf, sie gingen, wie das Programm titelte „Schon vor dem Abi in die Uni“, erwarben zeitgleich „credits“ in ihren Seminaren und Punkte in ihren WG-Kursen.

Als weitere Beispiele, stellvertretend aus einer großen Gruppe externer Partner im Rahmen der Begabungsförderung, seien hier genannt: Braunschweigisches Landesmuseum, BTSC Braunschweig, Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel, DLR Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt am Forschungsflughafen Braunschweig, Eintracht Braunschweig Wintersport, Hertie-Stiftung, HBK Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Museum für Photographie Braunschweig, Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften, phaeno Wolfsburg, Sternwarte Hondelage.

b) interne Entwicklungen

In den Jahren 2005-2010 gab es mit Blick auf die Begabungsförderung auch innerhalb der Schule vielfältige Veränderungen. So gründete sich z.B. im Jahr 2006 ein – bisher in Niedersachsen einmaliges – sog. „Elternnetzwerk Begabungsförderung“. Eltern und Erziehungsberechtigte aller Jahrgänge, die sich eigenständig organisierten, unterstützten uns Lehrer, ihre begabten Kinder und sich als Eltern untereinander, indem sie, da sie selbst Experten im Bereich der Begabungsförderung waren und sind, in Zusammenarbeit mit dem Koordinator für Begabungsförderung eigene Veranstaltungen (z.B. Spieleworkshops seit 2006) und Vorträge realisierten und das Gespräch mit den Lehrern führten (z.B. Gedankenaustausch zwischen Lehrern und Eltern im „Haus der Wissenschaft“ am 9.9.2010).

Einzelbausteine der Begabungsförderung sind in diesen Jahren der Konsolidierung weiter entwickelt und ausgestaltet worden. Schwerpunkte der Veränderungen in kleinen Schritten waren dabei z.B. die Verbesserung des binnendifferenzierten Arbeitens, die Planung und Durchführung individueller, langfristig begleiteter Lernprozesse, die Intensivierung der Betreuung beim „Springen auf Zeit“ in einen höheren Jahrgang, die Optimierung der Kommunikationswege zwischen allen an der Begabungsförderung beteiligten Gruppen, z.B. durch die Etablierung besonderer „Patenlehrer“ verschiedener Fachgruppen im Jahr 2010. Zudem wurden in zahlreichen Wettbewerben zum Teil herausragende Leistungen erzielt. Genannt seien hier nur die Schülerfirma „Know-it“, die 2007 den Titel „Beste Schülerfirma Europas“ gewann, und die zahlreichen Erfolge der „Jugend forscht-AG“, die den Schülerinnen und Schülern Jahr für Jahr besondere Erfolgserlebnisse und dem WG den Titel „Jugend forscht-Schule 2010“ bescherten.

Mit dem Jahr 2011 hat sich die Schulgemeinschaft des Wilhelm-Gymnasiums ein Jahrzehnt lang mit der besonderen Begabungsförderung auseinandergesetzt. Sie trat zunächst selbst als Lernende auf, in den weiteren Jahren zunehmend als Expertin, Ratgeberin und Helferin. Daher scheint es sinnvoll zu sein, zum Ende dieses Jahrzehnts nachzufragen: Wo stehen wir heute? Wo wollen wir zukünftig hin?

Verändert hat sich zunächst einmal die Schülerzahl. Es besuchen nicht mehr wie 2003 etwa 500 Kinder und Jugendliche unsere Schule, sondern über 1000 Schülerinnen und Schüler. Das hat deutliche Auswirkungen auch auf die Begabungsförderung, wird es doch zunehmend schwieriger, in einer zahlenmäßig großen Schülerschaft individuelle Lernwege zu entwickeln und zu organisieren. Vielfältige Kommunikation und die weitere Einbindung externer Bildungsträger sind unerlässlich, zumal Jahr für Jahr zunehmend mehr Schülerinnen und Schüler am Wilhelm-Gymnasium angemeldet werden mit der Erwartung, möglichst schnell in den Genuss einer individuellen Begabungsförderung zu kommen.

Zudem hat die Begabungsförderung am WG durch ihre Individualisierung von Lernwegen, ermöglicht z.B. durch das „Springen auf Zeit“ in einen höheren Jahrgang, dazu geführt, dass sich Schülerinnen und Schüler einer Klasse in den verschiedenen Fächern unterschiedlich weit entwickeln. Dabei können ihnen allerdings nach wie vor keine Möglichkeiten angeboten werden, frühere Abschlüsse oder Teilabschlüsse (etwa in ausgewählten Fächern, in denen sie besonders gefördert worden sind) zu erreichen. In der schulpolitischen Diskussion der letzten Jahre sind sogar eher gegenteilige Entwicklungen einer zunehmenden Zentralisierung von Prüfungsleistungen und Schulabschlüssen (möglicherweise bis hin zu einem bundesweit einheitlichen Zentralabitur?) erkennbar: Spätestens in den Abschlussprüfungen müssen alle Schülerinnen und Schüler, so unterschiedlich sie inzwischen auch gefördert sein mögen, über dieselbe Hürde springen, um dasselbe Ziel zu erreichen.

So beklagt Prof. Hans-Peter Klein, Abteilung für Didaktik der Biowissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt, „Effizienz und Exzellenz“ (Profil, Mai 2011, S.16) blieben gerade in den Abschlussprüfungen zunehmend auf der Strecke. Er sieht die Gefahr einer „Nivellierung der Ansprüche“ (ebd. S.15), da er in aktuellen Untersuchungen nachweisen konnte, dass zahlreiche Schülerinnen und Schüler selbst des 9. Jahrgangs die „Zentralabiturarbeit im Leistungskurs (Biologie) ohne Probleme“ (ebd. S.15) bewältigten. Ein Grund dafür sei, so Prof. Klein, in den neuen Aufgabenformaten zu finden:

„Kompetenzorientierung kann zu Aufgabenstellungen führen, bei denen nichts erklärt und analysiert, sondern immer nur reproduziert werden soll, was bereits im Text des Aufgabenteils steht. Die Rhetorik der Aufgaben und das umfangreiche Arbeitsmaterial wirken dabei höchst anspruchsvoll. Dahinter verbirgt sich das Gegenteil: die Reduktion der Aufgabe auf einfachste Informationsentnahme (ebd. S.15).

Musste bis zur Umstellung ein Schüler im Abitur zeigen, was er fachlich gelernt hatte, so geht es nun vor allem darum, den Texten die Sachverhalte zu entnehmen, nach denen mit den Bearbeitungsaufgaben gefragt wird“ (ebd. S.16).

Hochbegabungsförderung im Zeitalter zentraler Bildungsabschlüsse – ein Thema, das uns neue Herausforderungen stellt, unabhängig davon, ob wir den Ansichten Prof. Dr. Kleins nun zustimmen oder nicht. Auf jeden Fall sollte es am Wilhelm-Gymnasium auch im zweiten Jahrzehnt der Begabungsförderung gelingen, die Motivation und Leistungsbereitschaft unserer besonders begabten Schülerinnen und Schüler durchgängig vom 5. Jahrgang bis hin zur Abiturprüfung zu erhalten und ihnen auch weiterhin ein harmonisches Miteinander mit all ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in unserer „Lebenswelt Schule“ zu ermöglichen.