Das Fremde kann sich auf Verschiedenes beziehen: auf konkrete Menschen, Ereignissen, Taten oder auf abstrakten Ideen, Sitten, Ritualen, Motiven und Werten. Am Ende ist entscheidend, auf welcher Weise jede Person auf das Unbekannte reagiert.
Ungewissheit ist hierbei oft das erste Gefühl, welches aufkommt. Das „Fremde“ ist bis auf Weiteres erstmal nur ein undefiniertes Objekt, befindet sich manchmal in ferner Distanz, ist vage und möglicherweise unheilbringend. Diese Unwissenheit über die wahre Beschaffenheit, Funktion und Absicht des Objektes signalisiert Unkalkulierbarkeit und somit potenziell Gefahr, wirkt infolgedessen unzuverlässig oder sogar bedrohlich und beängstigend.
Eine mögliche Erklärung für diese Wahrnehmung ist der natürliche Instinkt des Menschen, sich vor möglichen Gegnern schützen zu wollen. Für andere kann der Grund die Angst vor dem Unbekannten an sich oder vor dem Kontrollverlust über die Situation sein. Das „Fremdobjekt“ wird also zum Störfaktor, zu einem Eindringling, der die Ordnung und Harmonie zerstört.
Ist dieser Unruhestifter bekannt, ist es z. B. eine oppositionelle Sichtweise, mit der man konfrontiert wird, wird der Mensch dazu bewegt, seine eigenen, in manchen Fällen sogar seit Jahrzehnten feststehenden Überzeugungen zu hinterfragen. So banal es sich auch anhören mag, ist dieser Vorgang psychologisch von großer Bedeutung und Anstrengung.
Zunächst einmal resultiert die Infragestellung von etablierten Normen, Werten oder allgemeinen Ideologien eine Schocksituation, die überwunden werden muss. Vom Menschen wird plötzlich erwartet, eine neue fremde Idee zu akzeptieren und die vertraute Ursprüngliche „wegzuwerfen“. Diese extreme und plötzliche Forderung wird auf verschiedenster Weise erwidert: Manche Menschen versuchen sich zu behaupten und reagieren sehr aggressiv. Andere versuchen sich zu schützen und halten sehr stur und hartnäckig an ihren Traditionen fest, denn nur so sind sie nicht gezwungen, ihre persönliche Komfortzone zu verlassen. Wieder andere zeigen Desinteresse, weil sie den mentalen Aufwand für die Aufnahme des Neuen erst gar nicht aufbringen möchten.
Um das Ganze besser zu verstehen, kann man den psychologischen Ablauf als Austausch eines LEGO-Bausteins mit einem anders Beschaffenen betrachten. Technisch gesehen, kann kein stabiles LEGO-Haus sowie generell keine solide Struktur aus ungleichen nicht harmonierenden Bausteinen errichtet werden. Ein einziges unpassendes Stück ruiniert die Regelmäßigkeit und somit das Gleichgewicht in der Struktur. Deswegen geschieht keine „unbeschwerte Aufnahme“ eines fremden „unpassenden“ Teilaspektes, der die persönlichen Vorstellungen auf dem ersten Blick widerspricht. Der Teilaspekt, die Facette „tanzt nämlich aus der Reihe“ und bedroht die Stimmigkeit in der intellektuellen Struktur.
Der „Empfang“ erfolgt also nicht immer reibungslos und es müssen demzufolge mehrere Schritte stattfinden, bis die Facette zum Bestandteil wird. In einem LEGO-Haus kostet das Entreißen des Bausteins Kraft, das Finden eines anderen weitere Mühe und das Einsetzen des neuen Bausteins ebenfalls Aufwand. Vergleichsweise beansprucht beim Menschen die Reise zum Finden der „richtigen“ Position, die Verarbeitung und Aufnahme dieser und schließlich die Befürwortung und Vertretung der Meinung sehr viel mentale Kraft. Durch bloße Änderung einiger Verzierungen am LEGO-Haus bleibt alles unversehrt, wobei bei Bauarbeiten am Grundgerüst der Einsturz des gesamten Hauses verursacht werden kann. Deshalb reagiert die menschliche Psyche sehr empfindlich auf „Bauarbeiten“ an tiefsitzenden Prinzipien im intellektuellen LEGO-Haus.
Man stellt also fest, dass je tiefer und zentraler der Baustein in der „intellektuellen Struktur“ platziert ist, desto pauschaler und fataler sind die Auswirkungen des Eingriffs.
Erläutern wir das Ganze an einem Beispiel: Versucht man einen Strenggläubigen davon zu überzeugen, dass seine Lieblingsfarbe nicht zu seinem Hautton passt, trifft es ihn verhältnismäßig leichter als der Versuch, ihn von der Nichtexistenz Gottes zu überzeugen. Auf das „Gläubig-sein“ baut nämlich seine Identität, seine Handlungsweise und sein gesamtes Leben auf. Das Problem der Lieblingsfarbe ist hingegen eher unbedeutend. Der Glaube ist das Kernstück, das Fundament seines intellektuellen Hauses.
Reißt man jenes aus dem Platz, fallen Bausteine, wackeln andere oder werden rücksichtslos entsorgt. Viele Nebensächlichkeiten, auch Alltäglichkeiten, die Selbstverständlichkeiten gewesen waren, fallen und sind nicht mehr einleuchtend. Es entsteht ein mentales Chaos, der sehr schwierig zu ertragen und überhaupt erst einzugehen ist.
Die aggressive Reaktion auf Fremdes ist demnach nur ein Schutzmechanismus; das Desinteresse an einem Dialog oder die Sturheit und Ablehnung der Möglichkeit, dass die eigene Position eventuell falsch sein könnte, demzufolge nur ein Fluchtversuch. Ein Versuch, der Vorstellung zu entkommen, dass die eigene Wirklichkeit nicht wirklich sein könnte. Ein Versuch, dem Unbekannten nicht unterlegen zu sein und die vertraute Atmosphäre nicht zu verlassen.
Die Abneigung gegenüber dem Fremden ist also bloßes Streben nach Sicherheit und Gewissheit.